Ankunft im Exil
Nach vierwöchiger Reise auf hoher See kam Familie Rubinstein mit einem kleinen Koffer und zehn Dollar Bargeld in Shanghai an. Sie waren eine Familie unter Tausenden von Flüchtlingen, die dem Naziterror in Europa entkommen waren. Der Flüchtlingsstrom mit Juden aus Deutschland setzte 1933 mit der Machtergreifung Hitlers ein, wuchs jedoch nach dem Novemberporgrom 1938 und den nachfolgenden Terrorakten gegen Juden 1939 enorm an. [1] Aus Österreich kamen ca. 6.000 Juden nach Shanghai. Die Anzahl aller Flüchtlinge, die Shanghai als Exilort erreichten, ist nicht eindeutig. Es waren zwischen 17.000 und 19.000 Personen. Der Großteil der Flüchtlinge ab 1938 kam so wie Familie Rubinstein mittellos an. Dies stellte für die etablierte jüdische Gemeinde in Shanghai eine enorme Herausforderung dar, denn sie war es, die zahlreiche Hilfskomitees bildete und organisierte, dass die Neuankommenden mit dem Allernötigsten versorgt wurden. [2]
Ilse Mass erinnert sich an ihre Ankunft in Shanghai…
[…] vom Luxus ins Elend […] Shanghai war eine bittere Zeit zuerst. […] habe bitterlich geweint. Dieser Jangtze-Po-Fluss hat irgendeinen Geruch gehabt, den ich von Europa nicht gewohnt war. Unglücklich war ich in Shanghai, bis man sich hat gewöhnt. […] Wir kamen in ein Camp. […] Ein großes Problem wurde das ungewohnte Shanghaier Klima, das viele Krankheiten auslöste. [3]
Für Herrn Rubinstein war die Lage besonders problematisch. Durch seinen fast einjährigen Haftaufenthalt im Konzentrationslager Dachau war er körperlich geschwächt. Während manche Flüchtlinge mit kleineren Geschäften oder Hausieren versuchten Geld zu verdienen, verlief seine Arbeitsuche erfolglos. „Er hat sich bitter gekränkt“, erinnerte sich die Tochter. „Wir haben den Paletot des Vaters und den Ehering der Mutter verkauft, um essen zu haben. Aber ich schäm mich heute nicht, zu sagen, dass ich mehr als einmal hungrig schlafen gegangen bin.“ [4]
Leben im Exil
Es wurde viel unternommen, um die Not unter den Flüchtlingen zu lindern. Sir Horace Kadoorie, ein jüdischer Millionär in Shanghai, gründete eine Schule für Flüchtlingskinder und machte sich damit einen Namen. [5] – Aber auch andere Persönlichkeiten organisierten Wohltätigkeitsveranstaltungen. Die Tochter des holländischen Konsuls organisierte gemeinsam mit ihrer Mutter ein Wochenende für Flüchtlingskinder, an dem Ilse teilnehmen konnte. – Dort wurde Ilses Talent entdeckt, war sie doch schon in Linz ein kleiner Tanzstar. In jungen Jahren besuchte sie in Linz das Brucknerkonservatorium und trat bereits mit sechs Jahren im Linzer Landestheater auf. – Ihr Tanzkarriere konnte sie nun im Cathay-Hotel, dem berühmten Luxushotel „Hotel Shanghai“ fortsetzen, das durch die Romanautorin Vicki Baum bekannt geworden war. Es war von Victor Sassoon für seinen Sohn David erbaut worden und entwickelte sich während der 1920er Jahre zum Prestigeobjekt von altansässigen Juden in Shanghai. [6] – In diesem Hotel wurde Ilse als neunjähriger Kinderstar gefeiert. Dass neun Jahre nicht ganz korrekt waren, tat nichts zur Sache, denn Ilse trat ja auch nicht unter ihrem richtigen Namen, sondern dem Künstlernamen „Little Doll“ auf! – Ihre Aufführungen, die auch im Broadway Theater stattfanden, wurden in der Shanghaier Presse angekündigt. Unter den Programmgestaltern befanden sich namhafte Künstler und Mitglieder der deutschen Filmbranche, für die es in Deutschland in den Jahren 1933 bis 1935 bereits eng geworden war, und die hier nun einen Neuanfang versuchten.
Jedoch Ilses Karriere war nicht von sehr langer Dauer, denn der Vater verbot ihr schließlich zu tanzen. Er wollte nicht, dass sein kleines Mädchen für den Lebensunterhalt der Familie aufkam, während er selber arbeitslos blieb. – In seiner starren Haltung verbarg sich eine ganz tiefe Not, die sowohl seelisch als auch körperlich bedingt war, denn im September 1942 verstarb Herr Rubinstein an Herzversagen.
Die beiden Frauen waren nun auf sich alleine gestellt. Sie respektierten den Willen des Ehemannes und Vaters. Frau Rubinstein begann im Shanghai General Hospital eine Ausbildung als Krankenschwester. Ilse besuchte die Shanghai Jewish Youth Association School, die der jüdische Millionär Sir Horace Kadoorie für jüdische Flüchtlingskinder gestiftet hatte. Nach der Schule begann sie als Stenotypistin in der Standard Oil Company zu arbeiten und fand später eine Anstellung in der Krankenhausverwaltung des General Hospitals.
weiter zu Krieg in Shanghai
[1] Vgl. Astrid Freyeisen, Shanghai und die Politik des Dritten Reiches. Würzburg 2000. 396.
[2] Vgl. ebenda. 403.
[3] Interview mit Ilse Mass 2003. Vgl. Astrid Freyeisen, Würzburg 2000. 405.
[4] Interview mit Ilse Mass 2010.
[5] Vgl. Astrid Freyeisen, Würzburg 2000. Anmerkung 131. 415.
[6] Vgl. ebenda. 402.