Die Mozartvolksschule
Am 16. September 1935 begann für die siebenjährige Ilse die Schulzeit an der Volksschule VS1 in der Linzer Mozartstraße [1] Ihre Erinnerungen daran sind sehr positiv. Ilse ging gerne zur Schule, liebte besonders die Fächer Schönschreiben und Geographie, hatte viele Freunde in der Klasse, aber ihre beste Freundin war Helga Scheit. „Diesen Namen hätte ich nie vergessen können, denn wir waren sehr innig miteinander!“, erinnert sich Ilse. [2] Nach dem Unterricht besuchten sie sich oft gegenseitig, aßen miteinander und erledigten vor dem Spiel gemeinsam ihre Hausaufgaben. – Das Verhältnis zu ihren Lehrern schildert Ilse folgender Maßen: ”Mit den Lehrerinnen war ich gut. Ich war eine brave aufmerksame Schülerin, habe brav die Aufgaben gemacht.” [3] Ilse war die einzige jüdische Schülerin in der Klasse. Wenn der Pfarrer zu den katholischen Schülern kam, verließ sie die Klasse und erhielt vom Linzer Rabbiner Viktor Kurrein jüdischen Religionsunterricht.
„Weg von hier…“
Bald nach dem Anschluss 1938 wurde Ilse aus der Schule gewiesen. – “Von heute auf morgen, ohne Zeugnis, die Schule musste judenrein sein, – arisch!”, erinnert sie sich an die Worte ihrer Lehrerin. “Sie hat mich zum Pult gerufen, – nicht vor den anderen Kindern, so viel Anstand hat sie gehabt. […] Ein paar Tage durfte ich noch kommen. Dann hat man gesagt: ‘Du bist Jüdin. Du darfst die Schule nicht mehr besuchen.’ – Und wie gesagt, ohne Zeugnis bin ich weg. Hab nur drei Klassen gemacht.” [4] – Die antisemitische Ausgrenzung beendete auch ihre Freundschaft mit Helga Scheit: “… wie heute weiß ich das noch. […] Nach dem Einmarsch und bevor ich von der Schule gewiesen wurde, hat sie erklärt, ihr Vater erlaubt nicht mehr, dass sie zu mir kommt, weil sie war natürlich Christin. Wir haben uns sehr gern gehabt. – Das hat mir weh getan!” [5]
Die „Judenschule“ in der Tagespresse
Am 18. Mai 1938 konnten man in Linz aus verschiedenen Tageszeitungen wie dem Linzer Volksblatt oder der Linzer Tages-Post erfahren, dass ihr Bürgermeister und Vorsitzender des Stadtschulrates einem Antrag des Schulinspektors statt gegeben hat, wodurch jüdische Schüler aus den öffentlichen Pflichtschulen ausgeschlossen und in einer eigenen “Judenschule” unterrichtet werden mussten. Damit wurde in Oberösterreich, dem Gau Oberdonau, das Reichsbürgergesetz als Teil der Nürnberger Rassegesetze von 1935 wirksam, das mit jüdischen Beamten alle jüdischen Lehrer und Schüler aus dem öffentlichen Leben verbannte. Ungeschminkt hielt der Schulleiter und Autor in der “Judenschul-Chronik” die alles beherrschende Ideologie fest:
„So bringt die nationalsozialistische Weltanschauung einen Wandel im Bildungsideal. Das Problem der Erziehung liegt nun in der Wechselwirkung von Individuum und Gemeinschaft. Die neue Erziehung ist nicht nur ein fachlich-schulischer, sondern auch ein allgemein politischer. Er sieht nicht den Menschen im allgemeinen als Ziel, sondern er will den politisch geformten Menschen der völkischen Gemeinschaft. Somit ist die Forderung nach den völkischen Schulen gegeben. Die Erfüllung dieser Schule erforderte die Abtrennung aller jener, die zufolge ihrer Abstammung den völkischen Gedanken ausschließt. Der erste Schritt hinzu, war die Zusammenfassung aller schulpflichtigen jüdischen Kinder in einer eigenen Schule.“ [6]
Zwei Lehrkräfte halbjüdischer Herkunft wurden von ihrem Posten abberufen, mussten nach Linz übersiedeln und die Organisation der “Judenschule” übernehmen, die in den Räumlichkeiten der “Hilfsschule I”, Altstadt 12, Ecke Tummelplatz untergebracht wurde, weil sie nachmittags ohnedies leer standen. Der Unterricht konnte daher nur nachmittags stattfinden. Die Kosten zur Erhaltung der Schule wurden der Jüdischen Gemeinde von Linz aufgebürdet.
Der Unterricht begann am 23. Mai mit zwei Lehrern für 18 Schüler und Schülerinnen aus acht Schulstufen in zwei Klassen. Der Name „Ilse Rubinstein“ scheint in der Liste der eingeschriebenen Schüler der Schulchronik in der Rubrik der Drittklässler und im Hauptkatalog der „Judenschule“ auf. Laut den überlieferten Archivdokumenten [7] besteht kein Zweifel, dass es sich um die 9-jährige Ilse handelt. – Nur mehr wenige Wochen dauerte der provisorische Unterricht. – In der Ferienzeit wurden Reservisten im Schulgebäude einquartiert, die die Räumlichkeiten über das Ferienende hinaus beanspruchten. Der Unterricht konnte daher für die jüdischen Schüler erst wieder nach ihrem Abzug am 10. Oktober aufgenommen werden. – Nun aber sollte sich die Schülerzahl durch den Ausschluss der jüdischen Schüler aus den Linzer Mittelschulen und Gymnasien erhöhen. [8]
Das entsetzliche Szenario in der Nacht von 9. auf 10. November 1938 brachte erneut eine schwerwiegende Zäsur im Schicksal der jüdischen Bevölkerung von Linz. Die “Judenschulchronik” erhielt einen gesonderten Eintrag, während sich in den Zeitungen wie dem Linzer Volksblatt oder der Linzer Tages-Post kein einziger Artikel zur Feuersbrunst am Linzer Tempel in der Bethlehemstraße äußerte. Die Angst unter den jüdischen Bürgern, die zu diesem Zeitpunkt Linz noch nicht verlassen hatten, stieg. Keiner schickte mehr sein Kind zur Schule und so wurde die ”Judenschule” am 17. November 1938 offiziell aufgelöst.
Ein Problem mit der Erinnerung
Als Ilse Mass im Interview 2010 nach ihren Erinnerungen an die „Judenschule“ gefragt wurde, reagierte sie sehr überrascht, denn an diese “Judenschulzeit” in Linz fehlte es ihr an jeglicher Erinnerung.
„Ich glaub, dass muss ein Irrtum sein. Ich hab keinen Grund, das zu leugnen. Ich kann mich aber nicht daran erinnern.“ […] „Ich weiß, es war eine lange Pause, als ich von der Mozartschule ‚ausgewiesen‘ wurde, – kann man ruhig sagen, – da war eine lange Pause bis nach der Kristallnacht, wo wir in Wien waren und die Mutti hat mich für ein paar Monate in dieser Albertschule eingetragen. Keine Ahnung von der 3. Klasse […]“ [9]
Albert Lichtblau nennt Orte der Erinnerung, die zu Tatorten, zu Orten der Demütigung, der Verfolgung oder Vernichtung geworden sind, „traumatisierende Nicht-Orte“. [10] Dabei handelt sich um Orte, die man aus der Erinnerung verdrängen oder gar eliminieren möchte, weil alleine die Gedanken daran tiefen inneren Schmerz verursachen. – Für Ilse Mass wurde die „Judenschule von Linz“ zu einem „Nicht-Ort“ im wahrsten Sinne des Wortes, den sie gänzlich aus ihren Erinnerungen verdrängt hat. – Erinnerungslücken in Bezug auf den Besuch der „Judenschule“ von Linz sind ein Phänomen, dem auch Verena Wagner mehrfach in ihren Zeitzeugen-Gesprächen begegnet ist. [11]
[1] AStL, Hauptkatalog der Judenschule 1938.
[2] Interview mit Ilse Mass, Jerusalem 2010.
[3] Ebenda.
[4] Ebenda.
[5] Ebenda.
[6] AStL, Chronik der Judenschule, fol. 1.
[7] Ebenda, fol. 2; Hauptkatalog Judenschule.
[8] AStL, Chronik der Judenschule, fol. 5.
[9] Interview mit Ilse Mass, Jerusalem 2010.
[10] Vgl. Albert Lichtblau, Topographie und Einnerung. In: Eleonore Lappin u. Albert Lichtblau [Hg.], Die „Wahrheit der Erinnerung. Innsbruck 2008, 107-111.
[11] Vgl. Verena Wagner, Jüdisches Leben in Linz. Institutionen I. 766.