Erinnerungsorte – „Topografie und Erinnerung“ [1]

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Im Gespräch mit Ilse Mass nimmt Linz eine zentrale Rolle als „Ort ihrer Erinnerung“ ein, viel mehr als die außergewöhnliche Metropole Shanghai, die 1939 zum rettenden „Zufluchtsort“ im fernen Osten für Familie Rubinstein wurde. Von Shanghai konnte Ilse kunstvoll von Hand gezeichnete Karten aufbewahren, während Bilder von Linz nur in der Erinnerung existieren und sie nur in Gedanken dorthin zurück kehren konnte, wo sie einmal eine glückliche Kindheit erlebte. Ilse erzählte vom Volksgarten, von seiner herrlichen Vegetation, die ihn auch für ihre Eltern zum Ort der Erholung werden ließ. Das Kindermädchen begleitete Ilse  auf den Spielplatz, den es schon damals in der grünen Oase mitten in der Stadt gab. In Ilses Erinnerungen existierten noch der schönen Brunnen und die überdimensionalen Statue, von der sie nicht mehr ganz sicher sagen kann, ob sie Franz Stelzhamer oder Adalbert Stifter darstellt. – Ilse hatte ein erstaunliches Gedächtnis!

Sie erzählte von Wanderausflügen mit der Familie auf den Pöstlingberg und von Schifffahrten auf der Donau. – Unvergesslich war ihr das Linzer Landestheater auf der Promenade, wo sie als junge Schülerin des Brucknerkonservatoriums 1934 ihre erste Tanzaufführung hatte. Die Wohnung und das Geschäft der Eltern lagen in der Bismarckstraße Nr. 4 [2] direkt dem Palais des Kaufmännischen Vereinshauses gegenüber. Dort holte sich der Vater gerne abends noch ein Bier. Selber genoss sie die köstlichen Erdbeerschiffchen aus der Bäckerei Brandl. Unweit von ihrem Zuhause besuchte Ilse die Mozart-Volksschule. Dass es auf dem Hauptplatz das große Warenhaus Kraus & Schober gab, blieb ihr ebenso noch in Erinnerung.

In den 1970er Jahren erhielt Ilse eine Einladung ihres Cousins, der nach dem Krieg wieder nach Wien zurückgekehrt war.[3] Er bezahlte für Ilse eine Reise von Israel nach Österreich. Ilse wünschte sich sehr die „Orte der guten Erinnerungen“ in Linz wieder sehen zu können. So ermöglichte ihr der Cousin zwei Tage einen Besuch in Linz. Es war dies die einzige Gelegenheit in ihrem Leben an reale Orte und Plätze ihrer Kindheit zurückzukommen. – Als sie durch die Bismarckstraße spazierte, wagte sie nicht an der ehemaligen Wohnungstür zu läuten, sondern gab sich mit dem „Nur-davor-Stehen“ zufrieden. – Heute sind diese Erinnerungsorte zu „verlorenen Orten“[4] geworden.

In der Stadt existieren auch „Nicht-Orte“, wie Albert Lichtblau jene Orte nennt, an denen traumatische Erinnerungen es unmöglich machen daran zurückzudenken.[5] Ein solcher Ort ist für Ilse das Jüdische Gemeindehaus in der Bethlehemstraße 26, wo Ilse mit ihrer Mutter ein Zimmer der ehemaligen Rabbiner-Wohnung bewohnen musste. Die Arisieure hatten ihnen die schön möblierte Wohnung und das Geschäft in der Bismarckstraße weggenommen. Der Vater war zu diesem Zeitpunkt im KZ Dachau interniert. Mit der Bethlehemstraße wollte Ilse nichts mehr zutun haben. – Ihre Abwehrhaltung ließ erkennen, dass die furchtbaren Ängste, denen die damals Zehnjährige ausgesetzt war, sie zutiefst traumatisierten. Sie wurde zum „Ort des Verbrechens“ und die Erinnerungen an die Lebensbedrohung für sie und ihre Mutter hatten übermächtige Nachwirkungen. Schreckliche Bilder von der Reichspogromnacht bildeten sich in ihrem Gedächtnis ab. Mit eigenen Augen musste sie mit ansehen, wie der Linzer Tempel ein Raub der Flammen wurde, Gebetbücher und die für Juden „heilige“ Tora-Rollen von SA-Männern aus dem brennenden Tempel herausgezerrt auf den Boden geworfen, mit Benzin übergossen und angezündet wurden.[6] – Zum weiteren „Nicht-Ort“ wurde die Judenschulein der Altstadt, wo Ilse mit ihrem Mädchennamen Rubinstein in die Judenschulchronik eingetragen wurde[7], jedoch jegliche Erinnerungen an einen Schulbesuch unwiederbringlich ausgelöscht sind.[8]

Die Wissenschaft spricht davon, dass „Menschen […] ihre Erinnerung nicht nur in Zeichen und Gegenstände aus[lagern], sondern auch in Orte, in Zimmer, Innenhöfe, Städte, öffentliche Plätze und Landschaften“ schreibt Aleida Assmann in ihren Ausführungen zur Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.[9] Dieses Phänomen macht sich das Projekt „Weg von hier…“ zu Nutze und viele der im Gespräch mit Ilse Mass erwähnten „Orte der Erinnerung“ konnten in Linzer Archiven an Hand historischer Fotografien aus jener Zeit, als die Protagonistin in Linz lebte, sichergestellt werden.

Räume und Plätze, die in Ilses Erinnerungen eine wesentliche Rolle spielen, liegen in der Innenstadt von Linz nahe beieinander und lassen so eine leicht überschaubare Topographie von „Erinnerungsorten“ entstehen, die sich in der Nacherzählung von Ilses Lebensgeschichte zu „Gedenkorten“ wandeln. Jedes dieser Bilder vermittelt dem Betrachter ein Detail aus ihrem Leben, welches das Medium Bild visualisiert. Während  eines Lehrausganges mit Kindern zu den einzelnen Erinnerungsorten und Schauplätzen in der Stadt vertieft ein Wiedererkennungseffekt an den realen Plätzen das Narrativ und gleichzeitig auch den Prozess der Empathie. – Andererseits schärft es das Bewusstsein für  Geschichte, die an diesen Orten geschehen ist. In die Geschichte von schönen Erinnerungen mischt sich eine Geschichte der Enteignung und Vertreibung von Juden „hier“ vor Ort, wie es der Projekt „Weg von hier…“ auch vermitteln möchte. Der jungen Generation diese historische Bewusstsein zu erschließen, ist unser Anliegen.

Die Lebensgeschichte von Ilse Mass mit ihren visualisierten Erinnerungsorten von Linz fügt sich in die Reihe bereits existierender Gedenkprojekte ein. In vielen Städten Österreichs und Deutschlands wurden in den letzten Jahren so genannte Stolpersteine verlegt, die den enteigneten, vertriebenen und im Holocaust ermordeten Juden unserer Länder im öffentlichen Raum ein sichtbares Denkmal setzen. Die Stadt Linz hat sich dieser Aktion nicht angeschlossen, jedoch wurde im Jahr der Kulturhauptstadt Linz09 das ebenso wirksame Projekt IN SITU ins Leben gerufen, das an Schauplätze und Tatorte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Linz führt. IN SITU bietet Vermittlungstools für Schüler ab 12 Jahre an. Das Projekt „Weg von hier…“ richtet sich in gleicher Intension an Schüler,  jüngeren Alters und entspricht dem pädagogischen Konzept von Yad Vashem, Kindern im Volksschulalter die Geschichte nur einer Person zu erzählen.


[1] Albert Lichtblau, Topografie und Erinnerung. In: Die „Wahrheit“ der Erinnerung. Innsbruck 2008. 98.
[2] Vgl. LINZ ERINNERT, Erinnerungsstele in der Bismarckstraße 3. An Ilse und ihre Eltern erinnert ein Klingelknopf.
[3] Interview Ilse Mass 2003.
[4] Albert Lichtblau, Topografie und Erinnerung. In: Die „Wahrheit“ der Erinnerung. Innsbruck 2008. 106.
[5] Vgl. ebenda. 107.
[6] Interview Ilse Mass 2003, 2007, 2010; Michael John, Bevölkerung in der Stadt, Linz 200. 242-247; Verena Wagner, Jüdisches Leben in Linz. Linz 2008. 782-284.
[7] AStL, Die Judenschulchronik, fol. 5.
[8] Interview Ilse Mass, Februar 2010.
[9] Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungslultur und Geschichtspolitik, München 2006. 217.

Weiterführende Literatur

Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006.
Oskar Dohle, Die Chronik der Linzer Judenschule. In: Walter Schuster, Fritz Mayrhofer, Maximilian Schimböck, [Hg.], Historisches Jahrbuch der Stadt Linz. Jg. 1997. Linz 1999, 409–424.
Eleonore Lappin u. Albert Lichtblau, Die „Wahrheit“ der Erinnerung. Jüdische Lebensgeschichten. Innsbruck 2008. 98.
Michael John, Bevölkerung in der Stadt, Linz 200.
Verena Wagner, Jüdisches Leben in Linz 1849 – 1943. Institutionen und Familien. Band I u. II. Linz 2008.