Es brennt!

Novemberpogrom oder ‚Reichskristallnacht‘, Linz 1938

Das schreckliche Erlebnis, als der Linzer Tempel ein Raub von Flammen wurde, grub sich tief in die Erinnerung der damals zehnjährigen Augenzeugin ein. Ein Student des benachbarten Priesterseminars sammelte wertvolles Beweismaterial von der Tempelzerstörung. Die Chronik der Linzer Judenschule erhielt zur nächtlichen antijüdische Aktion folgenden Eintrag:

Am 9. November brennt um 4 h früh die jüdische Synagoge in Linz nieder. Die Lage der Juden wird abermals verschärft. Minister Göbbels erläßt Maßahmen gegen die Juden, die ihnen jeglichen Besitz (Waffen, Häuser Grundstücke, Geschäfte…) untersagt. – Am 10. November ist kein einziger Schüler in der Schule. Der Unterricht muß daher entfallen.[1]

Die „Tages-Post“ berichtet auf der Titelseite der 10. November-Ausgabe von der Ermordung des deutschen Botschaftssekretärs Ernst v. Rath in Paris durch Herschel Grynspan.[2] Heute sieht man darin die Verzweiflungstat eines traumatisierten 17-jährigen Jugendlichen, der gegen die Entrechtung und Verfolgung seiner jüdischen Eltern in Deutschland protestierte, damals jedoch diente seine Tat der Rechtfertigung von gezielten Ausschreitungen in der Nacht vom 9. auf 10. November 1938. Die Reichsweite Aktion gegen die Juden wurde auch für die Linzer Bevölkerung als eine spontane Reaktion auf die Ermordung des deutschen Gesandten dargestellt [3] und das Niederbrennen von ca. 1400 Synagogen im gesamten Deutschen Reich wurde mit dem Begriff „Volkszorn“ legalisiert. Auf Seite Drei der „Tages-Post“ vom 11. November 1938 ist zwar sehr unscheinbar, aber dennoch von der Beteiligung der Linzer an dieser antijüdischen Aktion zu lesen:

So brannte, wie wir schon gestern in einem Teil unserer Ausgabe berichten konnten, Donnerstag nach 4 Uhr früh der jüdische Tempel in Linz bis auf die Mauern nieder. Als die Feuerwehr erschien, wütete das Feuer im Inneren des Tempels bereits so stark, daß sie sich nur auf den Schutz der umliegenden Bauten beschränken konnte. Gefahr für Menschenleben war durch den Brand in keiner Weise gegeben. In vorbildlicher Weise versahen die Feuerwehren unter dem Kommandanten der Berufsfeuerwehr Trimbacher ihre Arbeit, so daß jede Schädigung von Menschenleben und Eigentum unserer Volksgenossen verhindert werden konnte. […] Es wurden sofort Nachforschungen angestellt, doch konnte Täter bisher nicht ermittelt werden. Es kann vermutet werden daß es sich um einen Ausbruch der Empörung der Bevölkerung gegen die Juden handelt, denn die Erregung in Linz war schon in der Nacht riesengroß geworden, als die erste Kunde vom Tode des Pg. Rath, der seinen jüdischen Mordschützen zum Opfer fiel, bekannt wurde. Ueberall bildeten sich Ansammlungen aus denen erregte Stimmen gegen diese neue Provokation der Juden gegen das deutsche Volk laut wurden. Zu Ausschreitungen ist es jedoch in keiner Weise gekommen.[4]

Der Sicherheitsdienst der SS hielt in seinem Bericht zu den Vorgängen in der sogenannten „Reichskristallnacht“ fest:

Der Aktion gegen die Juden des Gaues Oberdonau [5] ist auf Grund der Tatsache, daß im Gaugebiet nur rund 650 Juden vorhanden sind, keine übermäßig große Bedeutung beizumessen […] Die jüdische Synagoge wurde gegen drei Uhr nachts von SA-Angehörigen erbrochen und teilweise demoliert. Die SA-Angehörigen befanden sich in Uniform […] Gegen vier Uhr traf eine Anzahl SS-Angehöriger in Zivil bei der Syngoge ein, die die weitere Aktion in die Hand nahmen. Die Synagoge brannte vollkommen aus, doch wurden wertvolle Ritualgegenstände sowie Gold- und Silbersachen und die in Frage kommenden Archive sichergestellt. Ferner wurden verschiedenen Sparkassenbücher über namhafte Beträge, die dem jüdischen Auswandererfonds gehören, sichergestellt. Sämtliches Material befindet sich in der Staatspolizeistelle in Linz. die Aktion der SS wurde in vollster Disziplin durchgeführt.[6]

Der Verfasser des Berichtes betonte, „dass die Stadtbevölkerung die Protestaktion […] als unbedingt erforderlich begrüßte.“ Der jüdische Augenzeuge Karl Löwy schildert die dramatischen Vorgänge aus einer etwas anderen Perspektive.

Wir sahen wie aus den Fenstern des Tempels die Flammen schlugen. Ein SA-Offizier mit einer Waffe in der Hand kam aus dem Gebäude. Die Tora-Rollen und Gebetbücher wurden herausgeschleppt und hingeworfen. Der in der Nachbarschaft wohnende Gewerbetreibende G. holte sich aus dem Vorraum des Tempels, in dem manche Requisiten verwahrt waren, einen Zylinderhut, einen Tallith, nahm eine Tora-Rolle in den Arm und setzte sich damit auf die Stufen zum Eingang des Gotteshauses, indem er sich wiegend einen hebräischen Singsang imitierte. Das Gegröle des angesammelten Pöbels dankte ihm für seine ‚humoristische‘ Vorstellung. Die Feuerwehr war anwesend, aber sie sorgte peinlich nur dafür, daß der Brand nicht auf die Häuser der Nachbarschaft übergreife. Zu uns, die wir aufgewühlt und erschüttert die grausige Szene ansehen mußten, kamen SA-Männer, mißhandelten uns und beschuldigten uns, daß wir Waffen versteckt hätten und daß wir Juden den Tempel selbst in Brand gesteckt hätten.[7]

Ilse Mass hatte ihre traumatischen Erlebnisse in dieser Nacht als damals zehnjähriges Mädchen in lebhafter Erinnerung. Was sie mitansehen musste, bewegte während eines Interviews, das sie im Jahr 2003 dem Wiener Historiker Dieter Hecht gegeben hatte, noch tief ihre Emotionen:

[…] in der Bismarckstraße mussten wir ausziehn, weil die [Vermieterin] hat uns irgendwie raus delogiert, […] diese kleine Hausfrau und sind wir übersiedelt in die Bethlehemstraße 26. Dort war die jüdische Gemeinde, geteilt durch einen Hof und vis-a-vis war die Synagoge, der Tempel. Wieso haben wir dort bekommen ein Zimmer? – War eine 5-6 Zimmerwohnung, haben verschiedene Familien ein Zimmer zugewiesen bekommen [8], denn der Rabbiner ist bereits geflüchtet, – Professor Dr. Viktor Kurrein, hab ich gut in Erinnerung, der uns auch den Religionsunterricht erteilt hat. – Und da haben wir ein Zimmer zugewiesen bekommen. Wie gesagt: vis-a-vis die Synagoge, ein größerer Hof und dann war diese Privatwohnung von diesem Rabbiner, der schon ausgewandert oder geflüchtet war, – das weiß ich nicht.
[…] in der Nacht, plötzlich haben wir gespürt, 10. November, 9. November, bekanntes Datum, […] – haben wir plötzlich einen Brandgeruch gespürt. Wir haben geschlafen, gucken wir raus beim Fenster, – lodernde Flammen! – Die Synagoge, meine Mutti hat sich, […] wahnsinnig erschrocken, wollte hin und her. Einen Moment, sag ich, der Hof ist doch dazwischen! – Gebetbücher und alles, – die haben schon rüber gelodert, die Flammen, wo diese Wohnung war mit diese viele Zimmer. Also in diese nächste Viertelstunde hereingestürmt SS in der schwarzen Uniform! – Das ist ein Trauma fürs Leben, – „Sarah!“, meine Mutti angeschrie’n, „Sarah, wo hast dos Geld! Wo ist dos Silber! Wo ist der Schmuck!“ – Alles über den Kopf, die Betten alles umgedreht, Schränke aufgerissen sagt einer, der auch unsere Kunde war: „Geh lass sie in Ruah, die Sarah! Er sitzt eh schon!“ – Das ist mir ein Leben lang in Erinnerung.[9]


[1] AStL, Judenschulchronik. fol. 6.
[2] ÖNB, Tages-Post 262. 10. 11. 1938. 2.
[3] Michael John, „Bereits heute schon ganz judenfrei…“ Die jüdische Bevölkerung von Linz und der Nationalsozialismus. In: FritzMayrhofer u. Walter Schuster (Hg.): Nationalsozialismus in Linz. Linz. Band 2. Linz 2001, 1348.
[4] ÖNB, Tages-Post 263. 11. 11. 1938. 3.
[5] Der Gau Oberdonau umfasste das Gebiet des heutigen Oberösterreich.
[6] Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), Bericht des Führers des SD-Unterabschnittes Oberdonau, SS-Sturmbahnführer Herbert Sperling, betreffend die Ereignisse am 9. und 10. November 1938 in Linz und anderen Städten Oberösterreichs. [Download]. 17.11.1938. Zitiert nach: Michael John, Bevölkerung in der Stadt. „Einheimische“ und „Fremde“ in Linz (18. und 19. Jahrhundert) Linz 2000. 244.
[7] Hugo Gold, Geschichte der Juden. 61.
[8] INSITU, Regina Thumser, Linzer „Judenhäuser“
[9] Interview mit Ilse Mass 2003.

Literatur
Hugo Gold, Geschichte der Juden in Österreich. Ein Gedenkbuch. Tel Aviv 1971.
Michael John, „Bereits heute schon ganz judenfrei…“ Die jüdische Bevölkerung von Linz und der Nationalsozialismus. In: MAYRHOFER, Fritz; SCHUSTER, Walter (Hg.): Nationalsozialismus in Linz. Linz. Band 2. Linz 2001, S. 1311 – 1406.
Michael John, Bevölkerung in der Stadt. „Einheimische“ und „Fremde“ in Linz (18. und 19. Jahrhundert) Linz 2000.
Verena Wagner, Jüdisches Leben in Linz 1849 – 1943. Band I. Linz 2008. 573 – 580; 782 – 784.

Link
INSITU, 9./10.11.1938, Bethlehemstraße 26